Alle Liebe
2. Oktober 2021
Schöne Wolken über dem Berzdorfe See
Chemtrails gibt es nicht
5. Juni 2024

Vielleicht ist es ja dieses „WIR“, was diese Gesellschaft zerfallen lässt (I. Teil).

Das Wir ist das Problem

Teil eins: Warum mir das „WIR“ Probleme machte und macht.

Also zunächst ist das WIR erst mal nur der Plural vom ICH. Das ist ganz einfach, wenn sich zwei Menschen unterhalten und sie beispielsweise einen Termin vereinbaren: „Treffen WIR uns zu einer bestimmten Zeit“. Das ganz funktioniert noch sauber bei drei Menschen, fünf, ja recht unkompliziert auch noch bei zehn.

Ein Laienchor mit vielleicht 65 Sängern der sich zur Abfahrt trifft spricht auch von WIR.

Wie fühlt sich die weitere Erhöhung der Anzahl der Menschen in diesem Gedankenexperiment für Dich an?
Bei Zweien lässt sich eine Übereinstimmung der Meinungen leicht annehmen, und ist auch noch vorstellbar bei zehn Menschen. Und nun fühle es mal bei 65 oder hundert oder 350 Menschen, die in diesem Zusammenhang ein WIR benutzen.

Eins ist sicher unbestritten: Bei einem Laienchor von 65 Sängern kommt immer einer zu spät. Achtung, ich spreche hier von einem Laienchor, der als gemeinnütziger Verein organisiert ist und aus Freude, Spaß und sozialen Aspekten diese Freizeitbeschäftigung gemeinsam ausübt.

Also zurück zu diesem Zuspätkommer. Dieser Zuspätkommer kommt ja „auch meistens“ zu spät und oft war ich es auch selbst, ohne dass die geplante Veranstaltung dadurch gefährdet war. Dieser Mensch wird erst mal ja ganz schief angesehen und kann sich bestimmte Sprüche anhören: „Immer kommst DU zu spät“, „Immer müssen WIR auf Dich warten“, bla bla bla.

Zurück zu diesem WIR von 65 Chorsängern, die sich zu einem Treffen verabreden. Hier wird bei der Terminabstimmung um den genauen Ort und den Zeitpunkt des Treffens mit Sicherheit viel diskutiert. Und irgendwann wird durch ein Strukturoberhaupt ein Termin festgelegt, der sich in der Diskussion als (vermeintlicher) Konsens herausgestellt hat.

Und die meisten halten sich dann auch an diese Absprachen aus dem vermeintlichen konsensuellen WIR. Bis auf den, der dann doch wieder aus der Reihe tanzt. Gehört der noch zum WIR? Was ist mit dem? Mit dem können WIR nicht mehr singen, der ist untragbar, selbst dann, wenn es der beste, resp. wichtigste Xsanx-Mensch einer Chorstimme ist.

Wie ist aber diese Einigung aus dem WIR entstanden? Genaugenommen wurde es diskutiert, geplant und dann von einem Organisator so festgesetzt, dass es einer einigermaßen einhelligen Meinung nahe kommt. Genau dieses Strukturoberhaupt hat jetzt plötzlich Macht über ein WIR, denn 65 Menschen können sich nicht gemeinsam gegenseitig abstimmen, wie es bei zwei oder drei Menschen der Fall ist.

Jetzt gehe ich weg von diesem überschaulichen und anschaulichen Beispiel:

Zunächst bin ich unbestritten Mensch in einer Gesellschaft und ein Element des Systems. Gleichzeitig möchte ich das System beurteilen und bewerten, indem ich versuche, eine höhere, übergeordnete Sichtweise einzunehmen. In dem Wissen, dass ich selbst Element in diesem System bin, mache ich mir ein Bild über das System. Eigentlich fast unmöglich, ich versuche es trotzdem.

In diesem System gibt es Menschen, die laufend ein WIR in den Mund nehmen und damit vermeintlich für alle Menschen sprechen: „Wir müssen zusammenhalten.“, „Wir schaffen das“.

Was passiert in einer Gruppe von Menschen in der ein Einzelner plötzlich das WIR benutzt? Der WIR-Benutzer bezieht also alle anderen Menschen dieser Gruppe mit ein und das unabhängig davon, ob andere Gruppenteilnehmer dieselbe Auffassung haben. Für die anderen Systemmitglieder scheint das teilweise sehr bequem zu sein, denn diese haben damit Selbstverantwortung abgegeben und der WIR-Sprecher hat sie übernommen, unabhängig davon ob er dazu in der Lage und/oder gewillt ist.

Gleichzeitig ist das für die Gruppenteilnehmer auch ein gutes Gefühl der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe (vgl. Gerald Hüther). Und andersherum ist es für den WIR-Sprecher auch recht bequem, kann er sich doch nach der WIR-Ansage ganz darauf verlassen, bei auftretenden Fehlern im System, die Verantwortung den Gruppenmitgliedern gemeinsam oder einzeln überzuhelfen. „Na, Du hast doch auch mitgemacht.“

Das ist ein scheinbar sehr bequemer Weg, Verantwortung nicht übernehmen zu müssen, gelegentlich zu delegieren und/oder zu projizieren. Und das paradoxerweise für beide Seiten, den WIR-Sprecher und allen anderen der Gruppe/des Systems.

Ich bin gut behütet in der DDR sozialisiert worden und mein Elternhaus war durchaus staatstreu (ohne weitere Abstufung). Gleichzeitig diskutierte mein Vater oft über bestimmte Phänomene der Gesellschaft und insbesondere dieser einen (damals guten) Partei, in der meine Eltern Mitglied waren. Einerseits hat er sich also über bestimmte Sachen geärgert und gleichzeitig das System als Ganzes verteidigt. Und so kam es bei gemeinsamen Diskussionen dazu, dass für mich dieses von ihm benutze WIR in einen Widerspruch geriet. Einerseits „WIR sind die Guten“, andererseits gibt es so viel zu kritisieren und zu verändern oder zumindest dazu anzuregen. Seit dieser Zeit habe ich ein Problem mit diesem WIR, welches sich auf große unüberschaubare Systeme bezieht. Ich bin zwar Teil in diesem System aus anonymen Elementen, aber noch lange nicht im Konsens mit diesem anonymen System.

Dieses WIR macht mir auch heute noch zu schaffen und löst in mir sofort Unbehagen aus, wenn sich ein vermeintliches Strukturoberhaupt hinstellt und von WIR spricht. Das kommt leider auch sehr oft in vermeintlich spirituell erfahrenen Gruppen und bei deren Speakern vor. Ich bin ggf. Mitglied dieser Gruppe, lasse mich aber deswegen noch lange nicht einfach so einbeziehen und mir eine Meinung über helfen. Ich bin immer noch SELBST für mich verantwortlich. Genau wie DU für DICH.

Fazit:
WIR als geschlossenes überschaubares System ist ok, was eben nur für eine abzählbare Menge an Menschen gilt.
WIR in einem anonymen System ist Verantwortungsmissbrauch und grenzverletzend und/oder für beide Seiten sehr bequem, bezüglich der vermeintlichen Verantwortungsverteilung.

Niels Reszies, 22. Oktober 2021

Teil zwei: Warum dieses Wir zur Zerstörung von Gesellschaften führt. (folgt demnächst)

1 Kommentar

  1. Ronald Bergmann sagt:

    WIR tun irgend etwas – diese Ausssage stellt für mich kein Problem dar, wenn es Konsens ist, was WIR tun oder wenn es als Empfehlung ohne Konsequenzen für den Einzelnen ausgesprochen wird.
    Dieses „Das WIR“, welches uns in eine gleichgeschaltete Masse vereinnahmen soll, ohne Widerrede und Differenzierung, das ist genau das Gefährliche. Es kommt persönlich und vertraut daher und schleicht sich so in unser Bewusstsein und plötzlich sind andere ausgegrenzt, die nicht in dieses WIR passen (wollen). Paradebeispiel für den Missbrauch des WIR ist der Satz „WIR schaffen das!“.
    Der DUDEN diferenziert WIR in mehrere Andendungvarianten. Ausgerechnet die Version, die am besten auf diese Nutzung des WIR passt, z.B.
    „das wollen wir doch vermeiden, Kinder“ oder
    „nun, wie fühlen wir uns denn heute?“
    verortet die Benutzung dieses vereinnahmende WIR ins familiäre, private:
    „[wir] … in vertraulicher Anrede, besonders gegenüber Kindern und (veraltend) Patient(inn)en“.
    Da erschließt sich auch der Duktus: „Mutti“ hat gesagt, „WIR schaffen das!“. Die perfide Wortwahl öffnet den Weg zu unserer emotionalen Ebene – es gibt kein Entrinnen. Wer sich zu diesem WIR nicht zugehörig fühlt, ist ein böses Kind. Das gehört bestraft und kann gedemütigt werden und es hat sich gefälligst in die durch dieses WIR gleichgeschaltete Gemeinschaft zu fügen!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*